Da nämlich befindet sich die Klassengemeinschaft gerade, »voll auf der Kippe«. Und manch ein Land wagt sogar das undenkbare Szenario - das Auseinanderbrechen der Klasse - anzusprechen. Das bekommt auch die Türkei mit, als sie sich heimlich durchs Fenster mit in die Klasse zu schleichen versucht. Und ist sich gleich gar nicht mehr so sicher, ob sie in diesem Team überhaupt noch mitspielen möchte.
Wie das so ist in einer Klassengemeinschaft: Man muss sich erst einmal finden. Schlecht, dass die Europa-Klasse überhaupt keinen Lehrer hat. Und die, die sich als Lehrmeister aufspielen möchten - allen voran Deutschland und Frankreich - sind eher nicht so gut gelitten.
Wer nach hinten schaut - der findet oft ein Haar in der Suppe. Da raufen sich Flandern (Nadine Arnholz) und die Wallonie (Lea Knölker) nur mühsam zusammen. Da wird Zypern (Lena Schulz) panisch, als die Türkei sich annähert. Und Irland (Joanna Albrecht) kommt mit einer fast schon aniven Spaß-Mentalität nicht nur gut an. Polen (Britta Hollmann) führt gar einen großen Aktenordner und heftet ihm zugedachte Beleidigungen penibel ab. Und Bulgarien (Julian Fischer) fühlt sich permanent von allen gemobbt. Vor allem, wenn es um die Wurst und ans Eingemachte geht. Gut, wenn da Hausmeister Straßburg (Reinhold Lauströer) morgens schon mal einen Rettungsschirm in die Klasse stellt. Und erstaunlich, wie es den Ländern bei aller Verschiedenheit gelingt, ihre Konflikte, wenngleich manchmal mit Muskelspiel, so doch stets friedlich auszutragen und sich am Ende auch ohne Schulpsycholgin zusammenzuraufen. Vielleicht braucht es ja in der Tat des heilsamen Schocks, den Finnland (Colin Peperkorn) allen versetzt, als es vorgibt, den Schlüssel für die Klassenkasse verschluckt zu haben.
„Spannend war, dass wir das Stück nicht kannten, als wir anfingen”, erklärt Lehrer Reinhold Lauströer, der mächtig stolz ist auf seinen Literaturkurs. Als eines von zwölf Ensembles der landesweiten Europaschulen hat der Literaturkurs des SteinGy »Voll auf der Kippe« zusammen mit Autorin Katja Hensel erarbeitet und für seine Fassung den Hauch eigenen Kolorits mit eingebracht. So wie die neue Version der »Ode an die Freude«. Wie heißt es da: »Wir können unsere Zukunft gestalten, müssen nicht auf der Kippe stehen. Und uns das erhalten, was wir als Europa seh’n«.
Es ist ein Spielen mit den Klischees. Aber auch der Versuch, unterhaltsam Zusammenhänge zu vermitteln. Zur Uraufführung gastierten die Schüler Anfang Mai im Rahmen der »Europawoche« im Theater Gütersloh. Gestern spielten die Elftklässler erneut in der Schulzentrumsaula. Wer’s dennoch bisher verpasst hat, sich die sehr gelungene Inszenierung aber keinesfalls entgehen lassen möchte, der hat am 13. Juni um 20 Uhr noch einmal im Bielefelder TAM Gelegenheit, »Voll auf der Kippe« zu sehen.
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