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Ein Gotteshaus hinter Mauern

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Von Jonas Damme

Steinhagen/

Bielefeld.
»Jude« ist ein Wort, das vielen Deutschen auch heute noch einen Kloß im Hals verursacht. Noch siebzig Jahre nach dem Holocaust existiert die jüdische Kultur in Deutschland für viele nur im Verborgenen. 17 Neugierige der Kirchengemeinde Brockhagen wollten nun mehr über die jüdische Gemeinde in Bielefeld erfahren und besuchten deshalb die Synagoge an der Detmolder Straße.

"In meinem Bekanntenkreis gibt es Christen, Moslems und Atheisten, aber Juden? Juden kenne ich keine", sagt eine Teilnehmerin der Brockhagener Besuchergruppe. So oder ähnlich begründen alle ihre Anwesenheit vor dem Tor der Bielefelder Synagoge »Beit Tikwa«. Ein jüdisches Gotteshaus von innen gesehen haben bisher die Wenigsten.

Die Synagoge wirkt weit weniger einladend als die Kirchen in Brockhagen und

Steinhagen.
Ist man es in der Gemeinde gewohnt, dass Kirchportale oft nicht abgeschlossen sind, scheitern die 17 Gäste nun bereits am Tor zur Straße. Mehrere Kameras, eine Sicherheitseingabe und martialisch wirkende Türen schützen die Synagoge. Nachts patrouilliert dort außerdem die Polizei. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Vergangenheit in Deutschland noch nicht endgültig zur Ruhe gekommen ist und die jüdische Religion nach wie vor Schutz benötigt. Fast pünktlich begrüßt dann aber Vorbeter Yuval Adam die Brockhagener Gruppe - vorerst in einer Sicherheitsschleuse - bevor es in die eigentliche Synagoge geht.

Pastor André Heinrich und Ingrid Wortmann von der Brockhagener Gemeinde haben den Besuch organisiert. Gespannt lauschen auch sie Adams so gar nicht frömmelnden Erläuterungen. In ausgeblichener Jeans, Holzfällerhemd und mit Drei-Tage-Bart berichtet er von der Geschichte seiner Gemeinde seit 1945. Von den Schwierigkeiten beim Synagogen-Umbau 2008, der dreimonatigen Besetzung der ehemals evangelischen Paul-Gerhardt-Kirche durch Christen, die die Übernahme verhindern wollten und den vielen weltlichen Gründen, warum das Gebäude heute nicht mehr aussieht, wie eine Kirche, aber auch nicht wie eine klassische Synagoge.

300 Mitglieder zählt die Gemeinde heute, und auch bei den Juden sind die Gottesdienste nicht immer gut gefüllt. In vielerlei Hinsicht ist die Bielefelder jüdische Gemeinde sehr aufgeschlossen, wie auch die Brockhagener Gäste feststellen. So erklärt Vorbeter Adam auf Nachfrage auch, dass in der »Beit Tikwa« Männer und Frauen nicht getrennt beten, wie es bei den Orthodoxen Brauch ist, sondern gemeinsam. "Ich mache mich ein bisschen lustig in der heutigen Zeit", gibt Yuval Adam zu, der für ein modernes Judentum eintritt.

Der Höhepunkt ist wohl für alle die Öffnung des Allerheiligsten. Im Tora-Schrank, dem »Aron habrit«, werden die Schriftrollen aufbewahrt, auf denen seit Jahrtausenden die jüdische Lehre ausschließlich handschriftlich niedergelegt wird. Zwei der vier Bielefelder Tora-Rollen stammen übrigens aus Werther, wie die Gäste erfuhren. Ein Polizeibeamter hatte sie vor den Nationalsozialisten in Sicherheit gebracht. Aus Angst, sie im eigenen Haus zu haben, hatte er sie - nach Adams Schilderung - ausgerechnet im Keller des Haller Gestapo-Hauptquartiers versteckt. Nach dem Krieg übergab er die beiden Rollen einem Wertheraner Juden, der das Vernichtungslager überlebt hatte. Der wurde später ein wichtiges Mitglied der Bielefelder Gemeinde. Mehr als 3000 Jahre umspannt die Schilderung Adams. Nur zwei kurze Stunden haben hingegen die Brockhagener Gäste am Dienstagabend um all’ ihre Fragen zu stellen.

Der Besuch der Bielefelder Synagoge war der Höhepunkt der aktuellen Brockhagener Gesprächsreihe über das Judentum. Am 27. Mai will sich der Offene Gesprächskreis um 18.30 Uhr noch einmal im Kantorhaus treffen, um die Eindrücke Revue passieren zu lassen.


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